Dienstag, 4. Juni 2013

Lesben nach vorn – Abweichung als Systemressource

Ein Gastbeitrag von Yv Eveline Nay*

Derzeit ist Pride-Zeit. Der Christopher Street Day (CSD) wird gefeiert und damit wird an die Aufstände von Transgender, Lesben, Schwulen und Bisexuellen im Juni 1969 in Greenwich Village in New York gedacht. Was mit einem Aufstand begann, ist heute zur Parade geworden – auch in der Schweiz. Der Stonewall-Riot wurde zur Pride-Parade. Eine „Parade des Stolzes“, die von den Medien gerne als schrill beschrieben und mit Drag Queens bebildert wird. An der Kundgebung is party going on: ausgelassene Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*Menschen und Queers (kurz: LGBTQ) tanzen auf, neben und hinter dröhnenden Lastwagen mit Bannern von sowohl politischen LGBTQ-Organisationen wie auch von den angesagten Clubs. Dahinter fahren sportliche Wagen einer global agierenden Kosmetikfirma, wo unter Werbeplakaten begehrte Probierpackungen von Anti-Faltencrème für Männer und pastellfarbene Beinrasierer verteilt werden. Die alljährliche Pride ist das ‚Homo’-Event und gilt im Mainstream (trotz des langjährigen lesbischen Feminismus und trotz der derzeit aufblühenden Trans*Bewegung) gemeinhin als männlich und schwul. Dieser Fokus soll hier etwas verschoben werden, zunächst mit der Frage: „Was ist die Lesbe von heute?“ Eine Frage, die mir anlässlich des letztjährigen „Lesbenkongresses“ der Lesbenorganistation Schweiz (LOS) gestellt wurde und die mich seither beschäftigt hat. 

Sexuelle Avantgarde?
Was also ist „die Lesbe von heute“? Selbstverständlich sind die Vorstellungen über Lesben in der breiten Öffentlichkeit anders, als beispielsweise das Verständnis, das Lesben von sich selbst haben. Lesben erscheinen – in den spärlichen Berichten über sie – in Mainstream-Medien als normbefreit und avantgardistisch, die weder Feminismus noch Gleichstellungspolitiken länger brauchen. So zum Beispiel im Magazin des Tages-Anzeigers aus dem Jahr 2011 zum Thema „Liebe, Leben, Lesben“ (Das Magazin 2011).[1] Unter dem Titel „Liebesspielerinnen“ ist eine Fotoserie über junge Lesben abgedruckt. Die Bilder portraitieren eine Freund_innen-Gemeinschaft, der es um „Freundschaft, weite Reisen, tiefe Blicke und kleine Lieben“ (Das Magazin 2011: 32) geht, wie eine der abgebildeten Lesben zitiert wird. Es sind junge, hippe Frauen, deren Fotos begleitet werden von belanglosen und anzüglichen Textlegenden, die einen einen voyeuristischen Beigeschmack haben: „Claudia (blond, Bild oben links) schmust mit Rosi“ (Das Magazin 2011: 35) oder „Yvonne und Nadine (oben) lassen sich mal treiben“ (Das Magazin 2011: 35). Die Porträts der Freund_innen-Gemeinschaft sollen die Kritik an der Monogamie in einem anderen Artikel in der gleichen Magazin-Nummer unterstreichen. Sie stellen junge Lesben in ihrer freizügigen Freund_innen-Gemeinschaft dar, frei von engen Beziehungsnormen, denen – so das Editorial des Magazins – heterosexuelle Paare unterworfen seien (Das Magazin 2011: 3).
Diese Lesben repräsentieren gemäss Magazin in Sachen Liebe und Leben die heutige Avantgarde. Denn sie glauben nicht – wie die scheinbar altbackenen Heteros – an die monogame Liebe, vielmehr reisen sie unbeschwert als Freund_innen durch die Welt und durch die Liebe. Feminismus – der als Oberthema dieser Magazin-Nummer fungiert –, scheint mit Lesben nichts zu tun zu haben. Die normbefreiten jungen, dynamischen Lesben scheinen von ihrem Lebensstil nur Vorteile zu ernten. Es ist keine Rede von Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, ihrer lesbischen Lebensweise oder von Homophobie. 

L-Word statt F-Wort?
Die Inszenierung der Lesben im TA-Magazin findet sein Pendant in der US-amerikanischen TV-Serie „The L-Word“, in der Lesben die Hauptrollen spielen. Die Serie ist wohl die berühmteste Lesbenserie und seit der Erstausstrahlung im Jahr 2004 der Knüller unter Lesben. Ein Klick bei Google und ich komme zum Titelbild der letzten Staffel. Die Aufmachung erinnert an die Fotos der jungen, weiss aussehenden, sexualisierten Lesben im Magazin: Die lesbischen L-Word-Charaktere sind auch hier chic, sexy, wohlhabend. Sie sind die Sterne in den Träumen vieler Lesben - allerdings sind sie weit entfernt von einer Durchschnittslesbe. L-Word wurde vielfach kritisiert, keine ‚lebensechten’ Lesben zu zeigen und so entstand „The D Word“[2], eine Parodie von L-Word, die nicht respektable ‚Lesben’, sondern ‚Dykes’ wie Lesben im Englischen Slang abfällig bezeichnet werden – männlich stilisierte Frauen, fettleibige Lesben, schwarze und braune Lesben oder Prolo-Lesben – vor die Kamera bringt. Mit der gleichen Motivation entstand eine weitere parodistische Adaptation, die „F-Word“[3] heisst. F für Feminismus – der im Magazin so gar nicht mit den jungen Lesben in Verbindung gebracht wurde.
In L-Word werden durchaus starke Frauen einem lesbischen – und nota bene auch einem heterosexuellen, nicht zuletzt männlichen – Publikum präsentiert. L-Word hat das Bild von Lesben in der Mainstream-Wahrnehmung verändert. Die klischierte Vorstellung von der beinbehaarten, hässlichen, wütenden ‚Kampflesbe’ oder ‚Mannsweib’ wurde teilweise abgelöst durch die Lifestyle-Lesbe. Auch die Lifestyle-Lesben in L-Word haben Feminismus nicht mehr nötig. Die Proklamierung der hippen und erfolgreichen Lesbe wird in der Community der Lesben als Fortschritt in der Anerkennung lesbischer Lebensweisen gedeutet. Aber sind Lesben durch TV-Serien wie L-Word tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angelangt, und ist Feminismus dadurch obsolet geworden? Wurde das F-Wort von L-Word abgelöst?
Wenn wir L-Word oder dem Magazin glauben wollen, sind junge Lesben die normbefreiten und flexiblen Subjekte, „denen noch alle Möglichkeiten des Lebens offenstehen“ (Das Magazin 2011: 36). In Zeiten des krisengeschüttelten Neoliberalismus erscheint das als echtes Kapital. Lesben werden zu den Gewinner_innen prekärer Zeiten stilisiert und damit zu Figuren der Hoffnung und des Fortschritts. 

Regenbogen-Mamis nach vorne!
Lesben führen derzeit die Speerspitze im politischen Aktivismus der LGBTQ-Community: An forderster Front werden Lesben den diesjährigen CSD, pardon, die Pride anführen. Als Regenbogen-Mamis stehen sie beim diesjährigen Pride-Motto „All Families Matter“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zusammen mit einigen Schwulen und Trans* fordern sie gleiche Rechte wie heterosexuell lebende Eltern. Insbesondere Lesben ergreifen in den letzten Jahren vermehrt die Initiative (inklusive deren Hürden), eine Familie zu gründen. Sie erscheinen neuerdings oft als so genannte Regenbogen-Mamis, die für ihre Rechte als Mütter einstehen. Sie fordern die Öffnung der Ehe, worin sie einen Fortschritt in der Gleichberechtigung von LGBTQ sehen.
Da sträuben sich alle (Bein)Haare von lesbischen Feminist_innen, die in den 1970er und 1980er Jahren sozialisiert worden sind. Damals forderten sie die Abschaffung der Ehe, weil sie patriarchale Herrschaftsverhältnisse aufrecht erhalten würde. Heute verbünden sich Lesben kaum wie in den 1970er und 1980er Jahren mit Abtreibungsbefürworter_innen gegen die (neuerdings wieder aufkommenden) sogenannten „Lebensschützer_innen“, sondern werden selber Mamis – Regenbogen-Mamis, die heiraten wollen. Das Anliegen, als ‚normale’ Familie behandelt zu werden, ist zwar aufgrund der misslichen Rechtslage für so genannte „Regenbogenfamilien“ legitim und wichtig und macht den Schulterschluss mit der patriarchalen Institution der Ehe verständlich. Doch bringt er tatsächlich Gleichberechtigung? Mit kritischem Blick liesse sich fragen: Warum muss zuerst geheiratet werden – oder die gleichgeschlechtliche Partner_innenschaft eingetragen werden – bevor Eltern und Kinder als solche rechtlich anerkannt werden können? Und wie kann verhindert werden, dass die Forderung nach der Öffnung der Ehe die rechtliche Anerkennung von Familien mit mehr als zwei Eltern verunmöglicht? 

Queer-feministische Bündnispolitik!
Lesbische Lebensweisen als normbefreit, sexualisiert und dynamisch zu stilisieren ist eine Folge eines Neoliberalismus, der Diversität und vielmehr noch Dissidenz zwecks Kommerzialisierung vereinnahmt. Alternative Lebensweisen werden neuerdings nicht mehr alleine als Abweichung marginalisiert. Die Abweichung von der Norm dient vermehrt als Ressource für einen Kapitalismus, der flexibilisierten Subjekte als Systemressource benötigt. Und dennoch: Das diesjährige Motto der Pride könnte – neben der Vermarktung von Schönheitsprodukten, was bei dem diesjährigen Pride-Motto wohl mit Babyprodukten ergänzt wird, und dem ausgelassenen Tanzen – Anlass sein, über neue Formen von Politik nachzudenken. Ich plädiere an dieser Stelle dafür, utopische Formen queer-feministisches Lebens zu entwerfen. In einer solchen Utopie würde Gleichberechtigung nicht Gleichheit bedeuten. So würden ‚wir’ keine kommerziell vermittelte Anpassung verfolgen, sondern eine Politik der strategischen Anpassung wählen. Das Ziel soll es nicht sein, der flexibilisierten Normalisierung zu entsprechen. Denn ‚wir’ wollen doch nicht einfach so schön und reich sein wie die L-Word-Figuren. ‚Wir’ wollen es auch nicht ins TA-Magazin ‚schaffen’, um dort als avantgardistische „Liebesspielerinnen“ anzüglich abgebildet zu werden. Noch wollen ‚wir’ als ‚normale’ Kleinfamilie die vielfältigen Kreationen von Familie verdecken.
Das Ziel wäre es vielmehr, die Vielfältigkeit queer-feministischen Lebens wertzuschätzen und dafür einzustehen, dass nicht alleine neoliberal passungsfähige Vielfalt gelebt werden kann. Dazu würden sehr wohl auch Glamour-Lesben gehören, Zwei-Eltern-Regenbogenfamilien oder umwerfend aussehende Liebesspieler_innen. Darüber hinaus würden jedoch auch Lesben in pflegebedürftigem Alter, behinderte gleichgeschlechtlich Liebende, Trans*Lesben, Lesben, die von der Sozialhilfe leben, fettleibig sind, lesbische Migrant_innen oder Lesben, die gehörlos sind und dazu vielleicht noch SM-Sexualität praktizieren, gleichberechtigt Platz finden. In einer queer-feministischen Vision von Politik ginge es um die Ermöglichung der Verschiedenheit in all ihren Facetten ohne eine allzu nahtlose Einverleibung in das kommerzielle System eines Kapitalismus der Diversität.

* Yv Eveline Nay ist Soziolog_in und Geschlechterforscher_in am Zentrum Gender Studies  der Universität Basel und an der Columbia University in New York. Nay hat unter anderem zur Geschichte frauenliebender Frauen und Lesben in Graubünden geforscht und untersucht derzeit im Rahmen eines Nationalfonds-Forschungsprojekts gleich- und trans*geschlechtliche Familien in der Schweiz. Nay ist zudem aktivistisch in verschiedenen queer-feministischen Zusammenhängen eingebunden.



[1] Das Magazin 2011, Heft Nr. 40. Tamedia AG: Zürich.
[2] Siehe http://www.thedword.com (zuletzt eingesehen am 21.05.2013).
[3] Siehe http://www.faithsoloway.com/fword.html  (zuletzt eingesehen am 21.05.2013).